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DER RISS
[...] Ich komme aus Serbien. Geboren bin ich aber in Jugoslawien, und habe in noch ein Paar anderen Ländern gelebt, ohne dafür umziehen zu müssen. Jedes Mal wo ein Stück Jugoslawien weg war, hat sich der Name geändert, und vor jeder Namenveränderung folgte ein Krieg.
Ich dürfte drei davon erleben.
Es sind ein Paar prägende Erinnerungen aus dieser Zeit geblieben.
Zum Beispiel, die Nacht wo Soldaten in unsere Wohnung einmarschierten und meinen Vater mobilisierten, werde ich sicher nicht vergessen.
In unsere Stadt kamen viele Flüchtlinge aus Kroatien und Bosnien. Meine Schulklasse wurde plötzlich doppelt so groß und bei meinen Großeltern wohnte eine Familie aus Bosnien. Ein paar Jahre später wurde in dem selben Haus eine ganze Militärtruppe untergebracht. Auch die Nächte wo wir in Klamotten und Schuhen schlafen mussten, bereit jederzeit in den Bunker zu fliehen, wenn die Sirene ertönen sollte. Viele sind in die Bunker gezogen und haben dort Monate lang gelebt, voller Angst und Bangen. Die leeren Supermärkte und die Schlangen wo man wartete um ein Kilo Mehl oder ein Liter Öl zu kaufen. Es gab nichts zum Kaufen, die Supermärkte waren buchstäblich - leer!
Serbien ist ein Bauernland, jeder hatte jemanden auf dem Land und deswegen ist keiner von Hunger gestorben. Mindestens keiner in meiner Umgebung.
Nun, irgendwann gegen 1995-1996 wurde es ruhiger und alle haben gehofft und gebetet, so was nie wieder erleben zu müssen. Und auch wenn es nur ein bisschen besser wird, vergisst man schnell das Schlimme.
Aber dann nur ein Paar Jahre später, am Mittwoch, den 24.03.1999... Harmonielehre-Stunde: Unser Lehrer sagte, er sei nicht sicher ob er uns eine Hausaufgabe für den nächsten Tag geben sollte, denn vielleicht gäbe es keinen Unterricht... er hat auch die Bombardierung erwähnt, aber wir haben nur gelacht und dachten es wäre nur ein Spaß. Ich kam nach Hause und hatte mich an die Hausaufgabe gemacht, als im Hintergrund ein wohlbekannter Klang aus der Vergangenheit ertönte - die Sirene. Zuerst leise und tief, dann im glissando immer höher und lauter und so drei Mal. Wir hatten in der Schule auch während dieser drei Jahre „Freiheit“ oft Bunker-Übungen wiederholt, als ob man sowas vergessen könnte! Ich saß ruhig und hörte. Ich habe es nicht geglaubt und dachte, es ist sicher nur noch ein Test. Ich bin ins Wohnzimmer gegangen, wo meine Eltern die Nachrichten geschaut haben. Es wurde gesagt, dass die NATO Bombardierung auf Serbien gerade offiziell angefangen hat. Mein Bruder spielte noch draußen und meine Mutter holte ihn ins Haus. Unser Hund war extrem nervös, bellte und kam panisch ins Haus, versteckte sich unter dem Bett und zitterte. Es ist nicht mal eine halbe Stunde von der Ansage vergangen, in der Ferne hörte man eine starke Detonation und sah das große Feuerwerk! Rot, Gelb mit viel Rauch! Es sah grandios aus! Die Brücke in Novi Sad wurde zerbombt. Die ganze Nacht hörten wir Flugzeuge und Klänge der fallenden Bomben. Spannend. Neue Musik. Gleich die nächste Nacht, wurde die Kaserne, die 200 Meter von unserm Haus entfernt lag, bombardiert. Die Flugzeuge, die diesmal so nah waren, haben mich geweckt. Wir waren nicht im Bunker. Kurz danach haben wir die fallenden Bomben (in glissando Tönen) gehört und uns schnell unter dem Türrahmen geschützt. Die drei Explosionen, die danach kamen, werde ich nie vergessen. Ich war mir sicher, dass unser Haus getroffen wurde. Es war wie ein starkes Erdbeben, alle Fenster im Haus waren kaputt und teilweise auch die Wände. Und das Feuerwerk, das die Explosion begleitet hat, war wirklich faszinierend!
Seitdem hasse ich Feuerwerk.
Sirenen, Flugzeuge, Bombenfallgeräusch, Explosion, Feuerwerk.
Das hat 78 Tage gedauert.
Dieses Mal war alles viel schlimmer als in den Jahren davor, es gab kein Kriegsfront, mit Soldaten auf einer Seite und der anderen Seite. Das ganze Land war ein Kriegsfront, die ununterbrochen Tags und Nachts bombardiert wurde.
Die Schulen haben nicht funktioniert, die Supermärkte waren wieder leer, die Fabriken wurden zerbombt, wie auch fast alle Brücken, Krankenhäuser, Fernsehsender und viele andere Gebäude wurden "versehentlich" zerstört.
Man lebte in einer Illusion und keiner konnte raus. Die Bewegung von einem Ort zu dem anderen war unmöglich. Alle Brücken und die ganze Infrastruktur wurde von Bomben getroffen. Es gab an einigen Stellen Booten, die Menschen auf die andere Seite der Fluss transportiert haben. Alle national Fernsehsende, Radiosender wurden zerbombt.
Viele Menschen sind „versehentlich“ gestorben, wie mein Nachbar in der Nacht des großen Feuerwerks.
Viele Menschen haben im Bunker gelebt, in Angst und Sorge, ohne Realität von außen.
Aber der Mensch gewöhnt sich an alles, so auch an die neuentstandene Situation und die Leute fingen an wieder „normal“ zu leben.
Man hat langsam nicht mehr so auf die Flugzeuge geachtet, die waren einfach immer am Himmel. Nicht mal auf die entfernten Explosionen und auch nicht so sehr an diese die etwas näher waren. Man hat eben jeden Tag gelebt und gefeiert, als ob es der letzte wäre. Es war letztendlich egal, ob man stirbt oder nicht. Wir lebten in der Surrealität.
Die Nachbarn haben sich getroffen, im Bunker oder auf der Straße, manche mussten in die Arbeit, es entstanden viele neue Freundschaften, neue Beziehungen (vor allem im Bunker) neue Gesellschaftsspiele. Es wurden so viele Kriegswitze erzählt und man hat jedes abgestürztes Flugzeug der NATO groß gefeiert, immer mit einem neuen Song, die dann auch ein Nationalhit war und im Radio und Fernsehen übertragen wurde.
Trotz Sirenen standen tausende Menschen mit Target T-Shirts auf den Brücken, um diese zu schützen, weil sie die Haupttargets für NATO waren. Diese „Target-Brücken“ sind Veranstaltungsorte geworden. Dort wurden live - Konzerte gespielt und Menschen haben laut gesungen und gefeiert. Aus Trotz und Stolz. Das ist das Bild, an welches ich mich erinnere.
Man konnte auch nicht anders reagieren, sonst würde man sicher verrückt werden. Oder vielleicht sind tatsächlich alle verrückt geworden?!
Das weiß ich nicht, aber diese Bombardierung hat sicher keinen gleichgültig gelassen. Es ist eine unglaubliche Erfahrung, die man mit sich trägt. Einerseits, eine Schwere, aber auf der anderen Seite auch eine Leichtigkeit. Weil im Vergleicht damit jedes Problem später im Leben scheint unwichtig und klein zu sein.
Das sind nur wenige von vielen Erinnerungen aus meiner Kindheit und Jugend, die ich Micaela erzählt habe.
Solche Szenen waren die Grundlage für unser Libretto. Wir wollten etwas Kleines, Intimes finden und daraus eine große Geschichte erzählen. [...]
- Ausschnitt aus der aktuellen Arbeit "Der Riss"
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